Nur wenige Tage nach dem versuchten „Selbstputsch“ von Präsident Pedro Castillo und seiner sofortigen Absetzung durch das Parlament am 6.12.22, gingen seine Anhänger und gewisse organisierte Gruppen vor allem im südlichen Andengebiet auf die Straßen und forderten den Rücktritt seiner Nachfolgerin und die Absetzung des gesamten Parlaments oder doch sofortige Neuwahlen. Dies machte sich an Straßenblockaden an 90 verschiedenen Stellen sichtbar, große Menschenmassen griffen die Polizei und staatliche Einrichtungen an, die zum Teil völlig verwüstet wurden.
Die Polizei
antwortete mit außergewöhnlicher Härte. Mehr als 50 Personen wurden seither von
der Polizei getötet, die meisten durch Schusswaffen. Dennoch bekam sie die
Blockaden nicht aufgelöst. Nationale und internationale
Menschenrechtsorganisationen haben das Vorgehen der Polizei verurteilt.
Die Demonstranten
waren zigtausende, kamen überwiegend aus indigenen Bauernvereinigungen, die in
ihren Dorfversammlungen beschließen, ob sie an der Blockade teilnehmen oder
nicht. Dazu kamen in meinem und in anderen Gebieten auch Vereinigungen
illegaler Kleinst-Goldminen mit tausenden Teilnehmern.
Anfang Januar
machten diese Menschen dann ihren Marsch auf Lima. Solange die Regierung in
Lima uns nicht ernst nimmt, wird sich nichts ändern. Seitdem sind auch in Lima Zentrum
täglich Tausende auf der Straße, die Polizei hat zum Schutz des Regierungs- und
Parlamentsgebäudes dort 14.000 Polizisten und Militärs zusammengezogen.
Es ist wie ein Bürgerkrieg,
nur dass die Aufständischen bisher nur mit Steinen bewaffnet sind. Es ist wie
eine Anarchie, denn die Regierung scheint zumindest im Süden die Kontrolle verloren
zu haben. Es ist ein Aufstand der Marginalisierten Landbevölkerung gegen die mittelständigen
Staedtler. Es ist wie ein Aufschrei nach der COVID Pandemie: Schluss mit der
Pandemie der Ungleichheit. Es ist ein tiefer Graben, der sich auch mitten durch
Kirchengemeinden und Familien hindurchzieht.
Die Mittelschicht
ist verängstigt und erschrocken und ruft nach dem starken Mann, der diesem
Schrecken endlich ein Ende bereitet. Sie vermutet überall Kommunisten und
Kriminelle, was deren wirkliche Bedeutung jedoch weit überschätzt. Im Moment spielt
die bisherige Vizepräsidentin die Rolle der starken Frau, unterstützt von der großen
Mehrheit des Parlaments. Weder die Präsidentin noch das Parlament will zurücktreten,
was ja die zentralen Forderungen der Demonstranten sind. Keiner weiß, wie lange
diese Blockadesituation noch andauern wird, wie viel Blut noch vergossen werden
muss, es könnte in einer Revolution oder Militärdiktatur enden.
Caraveli ist ein
relativ kleiner und ruhiger Ort. Aber seine Zugangswege waren ständig blockiert
und es gab bereits Mangel an Lebensmitteln, was teilweise durch örtliche
Produktion ausgeglichen werden konnte. Auch aus unseren Gemeinden gibt es
sowohl Teilnahme und Zustimmung als auch entschiedene Ablehnung der Proteste. Als
Bischof war ich mehrfach in meiner Reisefreiheit schwer behindert, im Januar
hatten wir z.B. Bischofskonferenz in Lima. Da ich nicht an den Demonstrationen
teilnahm, ist mein Leben nicht in Gefahr gekommen, außer vielleicht durch
abenteuerliche Fahrten durch die Wüste um Blockaden zu umgehen. Auch in der
Bischofskonferenz konnten wir uns zunächst nur auf den kleinsten gemeinsamen
Nenner einigen: Ein entschiedenes Nein zur Gewalt, von welcher Seite auch immer
sie kommen mag. Die Bischöfe aus der südlichen Provinz fordern dagegen auch,
dass die Menschen von dort angehört werden in ihren berechtigten Forderungen,
im Beseitigen der himmelschreienden Ungerechtigkeit und Ungleichheit,
verursacht und verstärkt durch die allgemeine Korruption. Inzwischen fordert
der Vorsitz der Bischofskonferenz in einem offenen Brief die Kongressabgeordneten
dazu auf, endlich vorgezogene Neuwahlen zu beschließen.
Trotz allem hat
in Caraveli Ende Januar/Anfang Februar das Patronatsfest stattgefunden mit
hunderten von Teilnehmern. Wie die alle kommen konnten, kommt einem Wunder
gleich. Unter dem Schutzmantel der Virgen del Buen Paso wird dieses Fest zu
einem Ereignis der Geschwisterlichkeit, auch ein kleines Wunder in Zeiten des Bürgerkrieges.
Ich habe meine Gefühle
im Bild der weinenden Maria unter dem Kreuz ausgedrückt, nur dass sie jetzt 2 Söhne
hat, die sich Kain und Abel nennen und sich gegenseitig umbringen wollen. Nach
dem Ende der Gewalt muss ein gegenseitiges Anerkennen der Geschwisterlichkeit
folgen, sonst wird der Friede nur von kurzer Dauer sein. Im Moment kann ich nur sagen: Betet für uns.
Caraveli, 4.2.23 Reinhold Nann
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